Mit unserer ehemaligen Coachee und Protagonistin unserer Goldnetz Bildungskampagne „Wissen für alle“ Tetiana sprechen wir über ihre Heimat, Flucht und Zukunftsträume, über das Ankommen in Deutschland und die Unterstützung, die sie erfahren hat.
Hallo Tetiana, vielen Dank, dass du dir für unser Gespräch Zeit nimmst. Du hast momentan viel zu tun, weil du neben deinem Leben nun auch noch für viele deiner Verwandten verantwortlich bist, die dieses Jahr aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet sind…
Ja, das ist wirklich anstrengend. Aber ich bin froh, dass sie nun hier sind, und unterstütze sie gerne.
Was genau machst du alles für sie?
Im Moment muss ich einfach viel organisieren, übersetzen und zu Terminen mitgehen. Ich bin froh, dass ich im März gerade Urlaub hatte, als meine Familie aus der Ukraine kam. Da war es noch viel mehr Arbeit. Zum Glück konnten wir meine Schwester mit ihrer Familie und auch meine Eltern, dank der Hilfe einer Sozialarbeiterin, in unserem Wohnheim unterbringen. Inzwischen haben sie hier sogar eigene Wohnungen. Aber ich muss mich immer noch daran gewöhnen, dass ich jetzt diejenige bin, die sich um alles kümmert. In den letzten Jahren musste ich mich ja nur um mein eigenes Leben und das meiner Tochter kümmern…
Wann bist du nach Deutschland gekommen und was war der ausschlaggebende Grund dafür?
Als 2014 der Krieg in der Ukraine ausbrach, war mein Mann dort bei der Polizei tätig und ab dann waren die Lebensumstände einfach schwierig. Deshalb sind wir im Januar 2017 nach Deutschland gekommen. Wir wollten an einem sicheren Ort leben, an dem wir uns auch eine Zukunft aufbauen und Familie gründen können.
Das habt ihr nun geschafft, oder?
Ja, dank dem Job-Coaching bei Goldnetz konnte ich schon ein Jahr nach unserer Ankunft in Deutschland eine Ausbildung in der Hotellerie beginnen. Wenn ich damals keinen Ausbildungsplatz bekommen hätte, hätten wir wahrscheinlich zurück in die Ukraine gehen müssen. Die Ausbildung habe ich inzwischen aber erfolgreich abgeschlossen. Und weil in dieser Branche gerade viele Arbeitskräfte fehlen, wurde ich direkt von meinem Ausbildungsbetrieb übernommen. Aber wir mussten lange auf unsere Dokumente warten… Erst kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine dieses Jahres haben wir den dauerhaften Aufenthaltstitel erhalten und können nun erst wieder verreisen.
Das bedeutet auch, dass du in den letzten Jahren gar nicht in der Heimat warst, richtig?
Ja, ich war zuletzt im Januar 2017 zuhause, in Mariupol und vermisse es sehr. Das Gefühl, jetzt dort kein Zuhause mehr zu haben, weil alles zerstört und besetzt ist, ist schwierig auszuhalten. Ich möchte so gerne noch einmal das Gefühl von Heimat bekommen und jetzt könnte ich zumindest endlich wieder in die Ukraine reisen. Aber ich habe Angst, dass ich, wenn ich dort bin und die Zerstörungen sehe, die Krise bekomme. Außerdem ist man selbst in der Westukraine nicht sicher… Dafür haben wir jetzt im Sommer Verwandte in Bratislava besucht und anschließend meinen Geburtstag in Wien gefeiert. Das war sehr schön!
Du strahlst richtig, wenn du davon erzählst, Tatjana. Was magst du am Reisen so gerne?
Ich fühle mich einfach immer ganz anders, wenn ich verreise. Außerdem lernt man doch total viel, wenn man verreist. Heutzutage kann man so viel erkunden und Neues erleben – und stattdessen macht man Kriege. Das verstehe ich nicht… Ich glaube, die Lust am Reisen kommt eigentlich aus meiner Kindheit. Ich bin am Stadtrand von Mariupol aufgewachsen und damals nie verreist. Meine Eltern haben einfach viel gearbeitet und wir hätten für jede Reise ein Visum beantragen müssen. Das war einfach unmöglich. So war ich immer gespannt auf die Welt und habe in meiner Schulzeit schon zusätzlich Englisch-Kurse besucht. Als ich nach der 9. Klasse entscheiden musste, was ich machen will, habe ich mich sofort für ein Tourismus-College entschieden. Ich möchte einfach Neues kennenlernen und mich weiterentwickeln.
In den letzten Jahren hast du dich bestimmt viel weiterentwickelt. Wie blickst du auf diese Zeit zurück?
Ich bin eine Perfektionistin – was ich auch mache, es ist immer zu wenig, in meinen Augen. Manchmal steht mir dieser Perfektionismus richtig im Weg. Während meiner ersten Zeit in Deutschland, war ich zum Beispiel total blockiert und konnte einfach kein Wort Deutsch sprechen, obwohl ich vorher schon angefangen hatte zu lernen und dann im Wohnheim auch einen Deutschkurs für Zuwanderer*innen besucht habe. Zum Glück haben wir in dieser Zeit Kontakt zu Opa Joachim bekommen, der hat mir sehr geholfen. Joachim war damals schon über 70 Jahre alt und kam als Ehrenamtlicher in unser Wohnheim. Als er gemerkt hat, dass ich wirklich motiviert bin, Deutsch zu lernen, hat er mir und meinem Mann angeboten, einmal wöchentlich extra zu uns zu kommen und ein Tandem mit uns zu machen. So konnte er auch sein Russisch verbessern. Irgendwann hat er uns dann auch zu sich nach Hause eingeladen und dort konnten wir die deutsche Kultur nochmal ganz anders kennenlernen. Heute ist er für meine kleine Tochter „Opa Joachim“.
Das klingt nach viel Unterstützung und Erfolg – wie ist es dir gelungen, hier so gut Fuß zu fassen?
Ich bin wirklich dankbar für all die Unterstützung, die wir hier in Deutschland schon erhalten haben. Total schwierig war das Ankommen in Deutschland für mich tatsächlich nicht, aber ich musste viel zu schnell erwachsen werden und für vieles kämpfen. In der Ukraine war ich eher schüchtern und meine Eltern konnten mich viel unterstützen. Hier war ich plötzlich ganz auf mich gestellt, weil mein Mann noch weniger Deutsch und Englisch sprach als ich. Am Anfang der Ausbildung habe ich jeden Abend geweint, weil ich in der Schule einfach kein Wort verstehen konnte und den kompletten Inhalt zuhause übersetzen und wiederholen musste. Das war sehr anstrengend. Aber in der Elternzeit, die ich während meiner Ausbildung genommen habe, hat sich plötzlich Vieles verändert. Als ich die Ausbildung danach fortgeführt habe, war mein Deutsch viel besser – und meine Noten wurden es auch ganz eindeutig. Außerdem hatte ich viel über Zeitmanagement und Verantwortung gelernt.
Was möchtest du in den nächsten Jahren noch erreichen oder erleben?
Ich weiß noch nicht, was ich in 10 Jahren machen werde – aber bestimmt etwas anderes als jetzt. Ich möchte noch viel reisen und mich weiterentwickeln und vielleicht auch nochmal etwas anderes lernen. Dass all das jetzt möglich ist, dafür bin ich Deutschland wirklich total dankbar. Wir sind hier in Sicherheit und können uns richtig was aufbauen, das war immer mein Traum.